Ein neuer Tag, ein neues Spiel, ein neues Glück: wir folgen dem Rat des Hüttenwirts und starten schon früh. Es soll wieder sehr heiß werden heute.

An das frühe Aufstehen und Losgehen muß ich mich erst gewöhnen. Die Schritte hinauf zum Passo della Staletta fallen mir schon schwer, aber nach einer Stunde komm ich mir wie befreit vor. Die Pause hat mir/uns gut getan, und so macht mir der zackige Aufstieg durch Geröll hinauf zum Passo di Valsecca mit seinen fast 2500 Metern und am Fuße der Cima Del Diavolo (Teufelsspitze) mit ihrem abschmeckendem Namen eigentlich nichts aus.

Hinunter kann es einem freilich schon blümerant werden. Der Pfad ist schmal, das Gestein brüchig, es geht steil bergab, und ich kann verstehen, warum unten auf der Hochebene vor dem Pass auf dem Wegweiser stand, der Weg 225 sei nur etwas für „Esperti“ (wobei unter den Experten wohl Geübte zu verstehen sind). Auf jeden Fall: Ich kann mir selbst auf die Schulter klopfen und mich als Experte fühlen.

Recht schnell erreichen wir das Bivacco Frattini auf 2125 Meter. Das Biwak ist unser „Plan B“, falls wir doch wieder schwächeln, könnenden wir in dieser an die Hangkante gebebbten roten Schachtel nächtigen. So klein sie ist, so bequem sind die Matratzen (wie ich später bei einem Zehn-Minuten-Mittagsschläfle konstatiere), aber unsere Aufmerksamkeit wird erstmal von etwas ganz anderem in Anspruch genommen: Nicht mal einen Steinwurf von uns entfernt tummelt sich eine Steinbock-Familie. Besser gesagt: Mütter mit ihren Kinder. Denn die Herren Väter gehen lieber ihre eigenen Wege.

Scheu sind die Tiere gar nicht. Was vielleicht auch erklärt, warum sie im 19. Jahrhundert fast ausgerottet waren. Nur dank des damaligen italienischen Königs Viktor Emmanuel II., der die gewaltigen Vierbeiner in seinem Herrschaftsgebiet unter strengen Schutz stellte, haben sie überhaupt überlebt.

 

Arco entkommen sie souverän, indem sie einfach auf den nächsten Felsvorsprung hüpfen. Und von uns befürchten sie offenbar nichts. Sie nähern sich fast auf Reichweite, ich kann zwei Videos drehen, und Christine zeichnet eine Skizze nach der anderen. Und sie gelingen ihr gut.

Gute drei Stunden halten wir es nun hier aus, und wir wären wohl hier geblieben, wenn nicht unsere Wasservorräte zur Neige gegangen wären. Aber einen halben Liter für Christine und einen Viertelliter für mich – das erscheint uns bei der gewaltigen Hitze dann doch zu riskant.

Also mache ich um 14.30 Uhr die Tür zum Bivacco doch wieder zu. Laut Alpenverein soll es drei Stunden bis zum Rifugio Brunone sein. Sollen. Aber schon bald wird klar: Das schaffen wir nie und nimmer. Denn erstens lassen sich nun auch die Herren der Steinbock-Schöpfung aus allernächster Nähe sehen, und zweitens bleibt das Terrain extrem schwierig, immer wieder muß man die Hände zur Hilfe nehmen, um nicht auszugleiten und den unfreiwilligen und fatalen Weg bergab anzutreten.

Mein Frust steigt doch wieder, ich bin sauer auf mich selbst, weil ich so verschwenderisch mit meinen Wasser-Reserven umgegangen bin und sie nicht aufgefüllt habe, als das ging. Weil ich mit der größten Selbstverständlichkeit davon ausgegangen bin, daß am Biwak Wasser ist. Wieder was gelernt.

Mit hängender Zunge laufe ich gegen 19 Uhr auf der Hütte ein. Das Essen im Rifugio Brunone hat nicht gerade Sterne-Qualität, aber dafür fällt viel vom Rindsbraten für Arco ab. Der hatte ja auch einem harten Tag.

Ich preise mich innerlich selbst für meine geniale Idee, für uns das Winterlager zu reservieren, damit Arco bei uns schlafen kann und wir unsere Ruhe haben. Aber schon während des Abendessens kommt die Ernüchterung: Die Bedienung teilt uns mit, daß sie noch zwei weitere Personen in unserem Zimmer unterbringen muß. Das stört uns im ersten Moment nicht sehr. Doch die beiden entpuppen sich als die Schäfer, die wir auf dem Weg hierher getroffen haben. Die ersetzen erstmal Arco durch ihren Hund, der unserem dann postwendend das komplette Futter wegfrisst. Und sie kommen dann auch noch lang nach 22 Uhr ins Nest und quatschen dann noch weiter. Und einer ist Fan des gepflegten Scharchens.

Es wird eine unruhige Nacht. Aber die bietet immerhin die Gelegenheit, den Vollmond zu fotografieren.

Gegangen am 4. August 2017

Geschrieben am 11. August 2017

Start: 7.30 Uhr

Ziel: 19 Uhr

Höhenunterschied: 1200 Meter Auf- und Abstieg.

Übernachtung: Rifugio Brunone; eher bescheidenes Essen, aber es gibt keine Wahl, ist die einzige überhaupt erreichbare Hütte; zudem: tolle Lage;
http://www.rifugio-brunone.appspot.com/