In Deutschland ist es jetzt, angesichts des Diesel-Skandals ein großes Thema: kostenloser Nahverkehr. Nun, den gibt es in Russland und auch in Sankt Petersburg nicht. Aber einen (zumindest für uns) sehr günstigen.

Und was noch ganz zuvörderst gelobt werden soll: einen sehr gut getakteten und absolut zuverlässigen.

Ob es Tagestickets gibt, die einem unbegrenztes Umsteigen erlauben, kann ich im ersten Moment gar nicht sagen. Es ist für uns auch gar nicht wichtig, denn wir wohnen im Hotel Petro Palace derart zentral, daß wir die Haupt-Sehenswürdigkeiten (wenn es nicht gar sehr pressiert) ohnehin zu Fuß erledigen. Zur Eremitage sind es per pedes gerade mal zehn Minuten.

Aber: Natürlich muss man in Sankt Petersburg auch einmal Metro fahren. Das ist schon allein für sich ein Erlebnis. Über schier endlose Treppen geht es hinunter in die Tiefe (unter anderem muss ja die Newa unterquert werden). Doch irgendwas ist anders als vor 15 Jahren. Aber was?

St. Petersburg Metro Rolltreppe

Endlose Rolltreppen in der Petersburger Metro.

Nach ein paar Minuten fällt es mir siedigheiß ein und auf: Damals hat es mich so beeindruckt, welch fleißige Leser die Russen sind. Fast jeder hatte auf dem Weg zu oder von den Zügen (und auch in den Bahnen drinnen) eine Zeitung oder ein Buch in der Hand und nutzte die Zeit, um zu schmökern. Denn Zeit braucht es schon, die Linien verlaufen wegen der schwierigen geologischen Verhältnisse 50 bis 75 Meter unter der Newa – die Petersburger U-Bahn gilt daher als die tiefstliegendste der Welt.

Heute wird zwar auch noch gelesen. Aber vermutlich ist die Dostojevski-Quote ziemlich niedrig und tendiert gegen Null. Auch an der Newa haben SMS und Smartphones ihren Siegeszug nicht nur angetreten, sondern auch abgeschlossen. Und daher befasst man sich kaum mehr mit Literatur, sondern checkt lieber SMS und WhatsApp, guckt, was es auf Facebook Neues gibt und schaut sich Instagram-Fotos an.

Wie ich beim Blick über die Schulter meiner männlichen Nebensitzer feststelle: erstaunlich (oder erschreckend) oft von heldenhaften Soldaten, die auf Panzern und mit denen oder ähnlichem Kriegsgerät posieren wie deutsche Supermänner mit den Utensilien aus der Muckibude.

Aber dass ich das überhaupt sehen kann, liegt an etwas, wonach am Mittleren Neckar ständig gerufen wird und worum, wenn es in seltenen Fällen tatsächlich mal eingeführt wird, ein Riesenbrimborium gemacht wird: Alle U-Bahn-Züge, selbst die ältesten Dschunken, haben kostenloses WLAN!

In der Region Stuttgart noch weitgehend ein Raum: Kostenloses WLAN in der Metro von St. Petersburg

Die Haltestellen (unsere ist die Admiralteiskaja – Admiralität – ein Zungenbrecher, an dem ich regelmäßig scheitere, aber jeder versteht mich) und die Zuwege zu den Bahnsteigen sind blitzsauber.

Keine Spur von Vandalismus oder Verwüstung, nichts ist verdreckt – wie war das nochmal mit den Russen, die keinen Wert auf Sauberkeit legen?! Hier unten ist da nichts, aber buchstäblich rein gar nichts zu spüren.

Stattdessen die Wertschätzung, die diesem Massentransportmittel entgegengebracht wird. Vielleicht liegt es ja daran, dass nach dem Horror der Blockade und der Verwüstung Leningrads im Zweiten Weltkrieg die U-Bahn ein erstes Zeichen der Hoffnung waren. Die Stationen der fünf Linien sind sichtlich vom sozialistischen Realismus geprägt, aber dies ist mir immer noch lieber als die Kühle und Kälte in und unter  deutschen Städten. Hier gibt es wenigstens außer farbigen Kacheln noch was zu sehen.

Sozialistischer Realismus hin oder her: die Petersburger U-Bahnhöfe sind einfach schön.

Zur traurigen Realität im deutschen Schienennahverkehr (gerade im Bereich des Verkehrs- und Tarifverbundes Stuttgart, des VVS) gehört es ja auch, daß gar nicht so wenige Zeitgenossen die Bahnen missbrauchen, um sich selbst zu töten.

Diese Gefahr hat man in Petersburg minimiert. Leningrad war die einzige Stadt in der Sowjetunion, in der man sehr oft auf geschlossene Bahnhöfe setzte. Man wartet vor verschlossener Tür, hört die Metro heranrollen, aber die Tür geht erst auf, wenn der Zug zum Stillstand gekommen ist. Und das tut er stets an der richtigen Stelle. Ein Wunder! Oder zumindest eine Meisterleistung. Hut ab!

Meine Wintermütze ziehe ich auch vor der Pünktlichkeit des Petersburger Nahverkehrs. Da kann der VVS nur vor Neid erblassen. Und auch, was sie Taktdichte anbelangt. Höchstens dreieinhalb Minuten muss man warten, in der Rush Hour fährt sogar alle zwei Minuten eine Metro. Man braucht keinen Fahrplan, man kommt garantiert schnell weiter. Wow!

Metro St. Petersburg

Auf dem Bahnsteig kann man auf dem kleinen Feld links der Uhrzeit genau ablesen, wann der nächste Zug kommt.

Und da ich ja schon seit Jahr(zehnt)en die Meinung verfechte, der Nahverkehr in Deutschland im allgemeinen und im VVS im besonderen sei viel zu teuer, komme ich natürlich an diesem Thema nicht vorbei.

Und an einer neuen Lobeshymne: Eine Fahrt mit der Metro kostet an der Newa 45 Rubel, im Bus 40 Rubel. Beides etwas mehr als 60 Cent. Beim Umsteigen muß man halt ein neues Jeton oder Ticket kaufen. Aber das ist alles viel, viel billiger als am Mittleren Neckar. Und preiswerter auch. Man bekommt schlichtweg eine bessere Leistung für weniger Geld.

Seniorentickets sind zudem massiv subventioniert. Ein Monatsticket kostet 500 Rubel für die alten Leutchen. Rund 7 Euro. „Ja, der Staat tut viel für uns“, sagt mir Margarete Schulmeister, eine 93-jährige Russlanddeutsche, als wir mit der Metro zu ihr in die Wohnung fahren.

Im VVS wehrt man sich mit Händen und Füßen gegen einen Sozialtarif und schließt dadurch Menschen von der Anteilnahme am gesellschaftlichen Leben aus. Auch wenn manche es nicht gern hören: Daß Putin in seiner Heimatstadt und in ganz Russland so beliebt ist, hängt vielleicht auch mit dem günstigen Nahverkehr zusammen. Und daß wir in zehn Tagen Petersburg viel weniger Stau erlebt haben als zuhause in Nürtingen oder Reutte, vielleicht auch.

Aber es gibt doch noch was für die, die sich nach den alten Vorurteilen sehnen: Im Bus, der uns zum Zarenpalast in Zarskoje Selo, das heute Puschkin heißt und Partnerstadt von Nürtingens Partnerstadt Zerbst ist, geht es eng zu und die Sitze sind total durchgeritten. Stimmt! Doch es gibt auch Kommunikation untereinander – und junge Leute, die sich breit machen, während ältere stehen müssen, werden zurechtgewiesen. Und fügen sich klaglos. Ohne Randale.

Und noch ein Pluspunkt: In den Stadtbussen von Petersburg fahren auch noch Schaffnerinnen mit, und als älterer Zeitgenosse kommt einem da fast unweigerlich der Uralt-Hit in den Sinn:

Auch wenn sie nicht immer klein und schlank sind: Lieb sind sie alle. Und freuen sich, wenn man radebrechend auf Russisch nach einer Fahrkarte fragt.

St. Petersburg Bus Schaffnerin

In den Bussen von St. Petersburg gibt es noch Schaffnerinnen!

Und sie helfen einem gerne, wenn man nicht weiß, wo man aussteigen muß oder soll.

Kurzum: Der Nahverkehr in Petersburg ist noch menschlich. Und zumindest dort verdient er die Note 1.

Mein Reiseführer-Tipp für St. Petersburg

Mein Reiseführer-Tipp für St. Petersburg: Auf Marcus X. Schmid und den Michael Müller Verlag kann man sich verlassen – auch im Nahverkehr.